Hallo, ich bin kein Fraßdorfer, war als Kind aber oft bei den Großeltern Elly (1914-1997) und Kurt (1910-1971) Hahn, Nr. 33 a. Mein Ururgroßvater Ernst Pfau hatte bis 1944 in der Nr. 33 gelebt. Ich habe für meine Enkel ein Buch geschrieben, in dem auch Fraßdorfer Erinnerungen eine Rolle spielen. Die teile ich gern.
Viele Grüße nach Anhalt. Roland Hahn Jena
Auszüge aus „Ich bin Anhaltiner. Kein Anhalter“ (von Roland Hahn)
In Fraßdorf war alles etwas kleiner und anders als in Quellendorf. Meine Großeltern hatten in der Lindenstraße 33a ein Haus aus den 30ern, für das Dorf ziemlich neu. Opa Kurt war eigentlich Schuhmachermeister und wurde im Dorf der Schuster genannt. (Das S mittendrin wurde zischend ausgesprochen wie ein doppeltes S.) Ab und an machte er auch noch Schuhe, hatte auf dem Dachboden in einer Kammer neben der Räucherkammer noch eine kleine Werkstatt. Da saß er auf einem dreibeinigen Holzhocker, schnitt nach Schablonen Leder zu, stanzte Löcher und vernähte und klebte Mokassins. Die wurden nur auf Bestellung gefertigt und waren ein kleiner Nebenverdienst. Denn sonst arbeitete Opa Kurt als Dreher beim Zementanlagenbau in Dessau. Es war eine Art Ritual, ihn abends vom Dessauer Bus gegenüber der Kneipe von Boths abzuholen. Ab und an gingen mein Vater und Opa Kurt in diese Kneipe, wo ich immer zu meinem Apfelsaft kam, der in einem besonders geformten Glas gebracht wurde. Neben der Kneipe gab es auch einen Laden, wo Opa Both oder die Frau des Kneipers Heinz Both verkauften. Dort holte ich oft im Auftrag vom Opa Zigarren. Meistens eine „Zwanzig-Pfenniger“, zu besonderen Tagen auch mal eine „Vierzig-Pfenniger“.
Bis etwa Mitte der 60er gab es eine zweite Kneipe im Dorf, Hartges. Ich erinnere mich an eine wohnzimmerartige Gaststube. Neben dem Biertresen hing eine Art Sparbox mit vielen Einzelfächern, in eines steckte mein Opa manchmal ein Geldstück.
Neben Hartges Kneipe gab es einen Dorfkonsum, in dem die Mutter meines Freundes und späteren Mitschülers Bernd Elze Verkäuferin war. Später zog der Dorfkonsum in die ehemalige Bäckerei um. Diese Bäckerei fand ich als Kind besonders toll. Vom Verkaufstisch aus konnte man dem Bäcker direkt zu schauen, wie er in einer etwas tiefer gelegenen „Grube“ die Brote oder Kuchenbleche in den Ofen schob. Die Wärme des Ofens war im Winter toll, die vielen Fliegen im Sommer oder die Wespen auf den Kuchen dagegen nicht.
Die Bäckerei befand sich am Ende eines Platzes mit einem Kriegerdenkmal für die Kriege 1870/71 und 1914/18 aus einem Findling, auf dem wir gern herum kletterten. Rechts von der Bäckerei gab es einen Stellmacher und vorn an der Ecke hatte der Schmied Pätzelt seine Schmiede aus Backsteinen, mit großen Fenstern. Davor wurden Pferde mit neuen Hufeisen beschlagen. Wir Jungs schauten oft zu, wenn der Schmied das Eisen zum Glühen brachte, auf dem Amboss bearbeitete und das heiße Hufeisen unter Gezische und Gestank dem Pferd anpasste. Einmal durfte ich auch mit einem Hammer ein glühendes Stück Eisen bearbeiten, aber an das Ergebnis kann ich mich nicht erinnern. Es wird nicht toll gewesen sein.
Beim Stellmacher holte ich im Winter Hobelspäne. Herrlich, wie es in der Stellmacherei nach Holz duftete. Der Stellmacher half mir, die Späne in Säcke zu stopfen und auf den Handwagen zu laden. Zu Hause kamen die Säcke in den Schuppen, wo der Opa für die Hühner im Winter einen größeren Verschlag abgeteilt hatte. Darin wurde ab und an eine Ladung Hobelspäne verteilt, damit die Hühner nicht im eigenen „Schlamm“ versanken. Im Frühjahr, wenn die Hühner wieder den Hühnerhof nutzten, wurde die festgetrampelte Masse wieder mühselig herausgekratzt, als Dünger für den Garten.
Die Straßenecke, an der sich die Schmiede befand, entwickelte sich nach stärkerem Regen zu einem besonderen Spielplatz. Es gab ja keine Kanalisation, aber die Dorfstraße war mit kleinen Granitsteinen gepflastert. Das Regenwasser floss in der Gosse Richtung Dorfteich, an der Ecke der Schmiede war die Gosse recht breit und tief. Hier bauten wir „Staudämme“ und ließen Boote darauf fahren. Das war auf der Straße nicht weiter gefährlich, denn es gab kaum Verkehr.
Boths Kneipe in Fraßdorf war auch etwas Besonderes, denn sie hatte einen Saal für den Feuerwehrball oder das Ringreiten und es gab dann Biertische draußen mit Imbissstand (meist Bockwurst) und Tombola. Diese Ringreiten waren DAS Dorffest. Am Tag zuvor fuhren die jungen Männer in den Diesdorfer Busch zum Maienschlagen. Die Maien waren junge Birken von 3-4 Metern, die vor den Häusern als Schmuck aufgestellt wurden. Beim Maibaumschlagen wurde tüchtig gezecht und mein Vater durfte nach einem Jahr nicht mehr mit, weil es halt zu viel Bierverbrauch gegeben hatte.
Schon damals wurde Nachhaltigkeit betrieben: Die Maien wurden nach dem Fest entästet, einen kleinen Ast ließ man als kurzen Stummel an der Spitze dran. Die so entstandene Astgabel diente zum Einklemmen oder besser Stützen der Wäscheleine. Aus der Birkenstange war eine Wäschestütze geworden, damit die an Wäscheleinen quer über den Hühnerhof ausgehängte Wäsche nicht zu tief hing.
Zum Ringreiten gab es einen großen Umzug, mit der Schalmeienkapelle voran ging es durch das Dorf. Die Ringreiter bildeten eine große Gruppe und am Ende wurden auch einige Ochsen mitgetrieben. Das machte einmal besondere Freude, denn einer der größeren Jungs hatte die Ochsen getrieben, von denen einer „etwas verlor“ Und in dieses Etwas fiel der Junge, unter dem lauten Gejohle der Umstehenden.
Zurück zur Nr. 33a. Vor dem Haus stand eine große Linde, die Straße heißt nicht umsonst Lindenstraße. Neben der Linde lag ein großer Stein. Auf diesem saßen wir oft im Schatten. Und er diente mir, wenn ich als kleiner Junge mit dem Erwachsenenfahrrad von Oma oder Opa unterwegs sein wollte, als Aufsteigehilfe. Vom Stein aus hatte man das Schlafzimmer im Blick. Fasziniert hat mich im Schlafzimmer der Großeltern eine lange Strippe. Das war ein Deckenlichtschalter, der an der Decke befestigt war. Am Ende der Strippe war eine seidenbezogene Quaste angebracht, an der man ziehen konnte. Das klack klack hat die Großeltern sicher genervt, weil wir als kleine Kinder nur zu gern daran zogen. Wohn- und Schlafzimmer gingen zur Straße raus und hatten sogenannte Berliner Fenster. Das waren doppelte Fenster mit einem Zwischenraum von vielleicht 15 Zentimetern. Darin hatte meine Oma Elly ihre Alpenveilchen stehen, die somit im Winter etwas kühler standen als im warmen Wohnzimmer. Im Sommer war es in den Fensterzwischenräumen auch kühl, weil die große Linde vor dem Haus viel Schatten warf. Dann bewahrte Elly Schnittblumen in Vasen darin auf. Die bekamen jeden Tag frisches Wasser. Das machte Elly auch noch so, als sie schon um die 70 Jahre alt war. Da hatte sie einen Strauß Nelken im Fenster stehen, die sich prächtig hielten. Eine Nachbarin sagte ihr, dass das doch künstliche Blumen seien. Waren es auch, aber Oma Elly hatte das nicht erkannt und immer fleißig das Wasser gewechselt.
Einen Staubsauger gab es lange Zeit nicht, dafür eine Teppichkehrmaschine. Maschine war jedoch übertrieben. Aber ich schob den am Besenstiel befindlichen -grauen Blechkasten mit Borstenwalzen darunter mit Hingabe hin und her, bis der Teppich wirklich sauber war. Das war er eigentlich immer, denn ins Haus durfte man nur mit Hausschuhen oder Latschen.
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Eingeprägt hat sich mir die Hofeinfahrt. Hinter einem braun rot gestrichenen Torweg: so wurde das Tor genannt- war der Hof mit Gehwegplatten belegt. Einige davon waren kaputt gefahren. Ich erfuhr, dass im Frühjahr 1945 dort ein US-amerikanischer Panzer rein gefahren war, weil das Haus als Kommandantur genutzt worden war. Dazu hatte die Familie in den Keller ziehen müssen, was sich erst mit dem Abzug der Amis im Sommer 45 änderte. Diese zerfahrenen Platten waren Mitte der 60er aufgebuddelt worden, weil eine Gasleitung ins Haus gelegt wurde. Noch einmal aufgerissen wurde der Weg, als das Dorf 1974 an das Trinkwassernetz angeschlossen wurde. Das war für die Oma gar nicht so einfach, da der Opa schon 1971 gestorben war und die Sickergrube auf dem Hühnerhof das nun doch größere Abwasservolumen nicht wirklich verkraftete. Ich habe daraufhin öfter die Sickergrube entschlammt.
Mein Urgroßvater Franz Fleck aus Quellendorf, der mich leider nicht mehr erlebt hatte, war Zigarrenfabrikant gewesen. Das klingt gewaltig. In Handarbeit wurden im Familienbetrieb daheim diese Zigarren gedreht. …Meine Großeltern väterlicherseits lebten in Fraßdorf. Die verwandtschaftlichen Bande meiner Großmutter Elly Hahn, geborene Fleck, führten ins benachbarte Quellendorf zu ihrer Schwester Martha Mansfeld, geborene Fleck. Ich erinnere mich an die Fahrradtouren, die ich als Kind zuerst auf dem Kindersattel auf Großmutters Fahrrad mitmachte und später auf meinem ersten 24er Fahrrad selber „hinlegte“. Eine kleine Weltreise damals, heute ein Husch mit dem Auto über gerade einmal zwei Kilometer. Dabei führte die schon Anfang der 1960er asphaltierte Straße am verlandeten, zugeschütteten Fischteich bei Fraßdorf vorbei am Pumpenwärterhaus des Tiefbrunnens durch den Jeser nach Quellendorf. Im Pumpenwärterhaus arbeitete Großonkel Franz Mansfeld, der ziemlich zeitig verstarb. Großtante Martha hatte in ihrer handschriftlichen Rezeptesammlung ein eigenes Gedicht aufgeschrieben. „Zwischen Quellendorf und Fraßdorf, da steht ein Haus, da guckt der Franz zum Fenster raus. Und wenn er mal am falschen Knopf dreht, dann geht in Dessau das Wasser aus:“ Mich interessierte eher, dass es im Pausenraum ein Aquarium mit Makropoden gab.
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Meine Tante Gerda arbeitete Ende der 60er in Fraßdorf in der Chemischen Fabrik. Dort wurde aus einer geleeartigen Masse in einem Stranggussverfahren weißer Kohlenanzünder hergestellt. Am Ende der Strecke wurde der Strang in tafelförmige Stücke geschnitten. Die Tafeln kamen in einen Trocknungsschacht, wo sie mit Fahrstuhl hochfuhren und nach dem wieder-runter-gekommen-Sein abgepackt wurden. Es gab aber auch viel Bruch, der säckeweise billig an die Belegschaft verkauft wurde, weil er sich nicht wieder verflüssigen ließ. Gern wurde dieser zum Kohleanzünden genommen und mitunter heizte man mit etlichen, mit schwarzem Rauch und Chemiegestank verbrennenden Mengen auch mal schnell den Badeofen.
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Fernsehen. Wer weiß schon noch, dass das Fernsehen der DDR anfangs Deutscher Fernsehfunk hieß? Oder dass sich hinter dem Begriff Rundfunk die Begriffe Fernsehfunk und Hörfunk verbergen?
Meine Großeltern in Fraßdorf hatten schon Mitte der 50er einen Fernseher, schwarz-weiß und mit sehr kleinem Bild. Es hieß, dass sich im Dorf die Leute oft bei den Großeltern oder beim Schlosser Lässig zum Fernsehen trafen. Die Flimmerkiste war halt eine Sensation.
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Schwere Bombenschäden hatte es in Köthen wohl nur im Bereich des Betriebes meines Vaters, Förderanlagenbau, gegeben, weil sich dort die Motorenproduktion der Junkerswerke befunden hatte. Kriegsproduktion.
Östlich von Fraßdorf gab es mitten auf einem riesigen Feld eine Baumgruppe, wo 1945 ein amerikanischer Bomber abgeschossen und abgestürzt sein sollte. Im Ort selbst gab es auf dem Friedhof zwei Soldatengräber und mein Vater erzählte mir, dass die beiden Toten am Landgraben im Jeser gefunden worden sind.
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Kiete? So wurden im Anhaltischen Gruben genannt. In eine Schuttkiete brachte man (selbst) den Müll. Aus einer Sandkiete hingegen holte man Sand. Wie in Fraßdorf, so war das meist verbunden: Da, wo der Sand schon raus war, kippte man den Schutt rein. Also eine Art „wanderndes Loch“. Ob man für das Schuttabladen etwas bezahlen musste, ist mir nicht bekannt. Ich kann mich aber erinnern, dass für einen Handwagen voll Sand 50 Pfennige an die Gemeinde gezahlt wurden. Der Sand wurde vom Großvater Kurt Hahn genutzt, um ihn auf dem Fußweg vor dem Haus auszustreuen. Der lehmige Fußweg war ungepflastert und wurde jeden Samstag eifrig gekehrt, die Nachbarn taten es auch so und man war ja „anständig“. Verpasste man das Kehren, dann war man Dorfgespräch.